KuKuK-Textwerkstatt 2023

 


12. Juni 2023 - Barbara Yeo-Emde, Tag der Abrechnung in den USA

 

Ein Tag der Abrechung kommt bald in den USA – Lang genug haben wir darauf gewartet.

 

Am 8. November 2016 wurde Trump gewählt. Am 9. November fing ich schon an zu hoffen, dass er bald verhaftet werden würde. Schon damals musste man nicht Einstein sein, um zu merken, dass dieser Mann absolut nicht für die Präsidentschaft geeignet war, dass er vor verbrecherischen Eigenschaften strotzt. Trotzdem, aus Gründen, die mir immer noch schleierhaft sind, wählte ihn eine enorme Zahl Amerikaner und trotz allem, was er während seiner Amtszeit verbrochen hat, würden sie ihn wiederwählen. Er ist der führende republikanische Kandidat für die Präsidentschaftswahl in 2024. Erschreckend!

 

Es heißt, dass man erst annehmen soll, dass jemand unschuldig ist, bis bewiesen wird, dass er tatsächlich schuldig ist. Mit alledem was Trump sich über die Jahre erlaubt hat, von sich gegeben hat, und die vielen zivilen Anklagen gegen ihn, wo er große Summen an Schadenersatz bezahlen musste, ist es für mich schier unmöglich zu glauben, dass er in der Lage ist, überhaupt irgendetwas zu machen, ohne zu lügen oder Betrug zu begehen. Er ist über alle Maßen egoistisch, narzisstisch und größenwahnsinnig. 

 

Endlich wird er für einen seiner zahlreichen, sehr wahrscheinlichen Verbrechen verhaftet und angeklagt, und zwar wegen seiner illegalen Mitnahme und seines Behaltens teils hoch geheimen Staatsdokumenten nach seiner Amtszeit, obwohl er mehrmals aufgefordert wurde, sie zurückzugeben. Der Tag, auf den ich seit über 7 Jahren warte, kommt am Dienstag, den 13. Juni.

 

Es gibt 38 Anklagepunkte, die genau und verständlich in dem schon veröffentlichten Anklagedokument aufgeführt sind (hierzu eine deutsche Übersetzung von DeepL als PDF - ich kann nicht garantieren, dass es immer stimmt). Wie man lesen kann, gibt es Beweise von Mitarbeitern in Mar-a-lago und zumindest von einem seiner Anwälte, der Transkripte von Gesprächen mit Trump aufschrieb. Es heißt, dass sogar Tonaufnahmen existieren, die noch nicht veröffentlicht wurden. 

 

Hier ist eine kurze Zusammenfassung der Tatbestände:

- absichtliches Behalten von geheimen Informationen bezüglich der nationalen Sicherheit

- Verschwörung, Justiz zu behindern

- Zurückhaltung von einem Dokument oder Prozessmaterial

- Korrupte Unterschlagung von einem Dokument oder Prozessmaterial

- Unterschlagung eines Dokuments in einer bundesstaatlichen Ermittlung

- Komplott zur Verschleierung

- Falsche Aussagen und Wiedergaben

 

Viele dieser zum Teil als geheim, oder streng geheim klassifizierten Regierungsunterlagen wurden unbeaufsichtigt und teilweise an frei zugänglichen Stellen aufbewahrt. Zusätzlich wird vermutet, dass Trump manche Dokumente noch hat. Es ist ihm zuzumuten, dass er Gelder für Information oder sogar Dokumenten annehmen könnte.

 

Es gibt noch ein Haar in der Suppe. Vor einigen Monaten genau in diesem Fall mit den Dokumenten fasste eine von Trump ernannte Richterin in Florida Beschlüsse, die eindeutig zugunsten Trumps waren. Sehr schnell wurden dieses Beschlüsse von einem höheren Gericht als nichtig erklärt. Sie wurde jetzt als die zuständige Richterin für dieses neue Verfahren zugeteilt. Man kann nur hoffen, dass sie mit den Beweisen, die vorhanden sind, nicht auf die Idee kommt, Trump irgendwie wieder ungerechterweise zu helfen. Es ist höchstes Gebot, dass dieses Verfahren vor der Wahl in 2024 stattfindet. Wenn er wiedergewählt wird, wird er sich selber eine Begnadigung aussprechen. 

 

Schon vor dem 6. Januar 2021, dem Tag dieses furchtbaren Sturms auf das Kapitol, hat er mit seinen unzähligen Komplizen versucht, alle erdenklichen Tricks anzuwenden, um die Wahl für sich zu manipulieren. Darüber habe ich schon geschrieben. Glücklicherweise sind sie bis jetzt gescheitert. Seit der Zeit erhält er riesige Summen von seinen Wählern hinterher geschmissen. Absolut hirnrissig! 

 

Eines darf man nicht vergessen. Die Anzahl Leute, die Trump unterstützten und das noch tun, ist sehr beachtlich. Sie haben sich entschlossen, einfach wegzuschauen. Ich bin gespannt, wie sie die Beweise, die jetzt zutage gekommen sind, verleugnen oder verharmlosen können. Ein „Normalsterblicher“ wäre schon längst hinter Gittern.

 

Mittlerweile gibt es einige andere republikanische Kandidaten für die Präsidentschaft, aber so gut wie alle trauen sich nicht, Trump zu kritisieren. Und besser sind sie auch nicht. Sie hoffen, dass falls Trump in den Knast kommt, dass er als Kandidat wegfällt, wobei es theoretisch möglich ist, dass er vom Knast aus weiterhin regieren dürfte. Diese anderen Kandiaten wollen Trumps Gefolgschaft nicht ärgern, so dass sie möglicherweise diese Stimmen für sich gewinnen können. 

 

Während ich diesen Text schreibe, haben wir im KuKuK eine Ausstellung zum Thema „Nationalsozialismus“. Was wir jetzt in den USA von manchen Politikern sehen und erleben, ist nichts anders als was hier in Deutschland in der NS-Zeit getrieben wurde. Wenn man näher schaut, was in den einzelnen Staaten abgeht, die in republikanischer Hand sind, werden Zivilrechte aller Art heftig abgebaut. Der Rassismus wird gesellschaftsfähiger gemacht. Schießereien sind an der Tagesordnung und sind sehr oft Massenschießereien mit Kriegswaffen. Mit Hilflosigkeit und Verzweiflung fragen sich viele Amerikaner, was man machen kann, um diese Entwicklung aufzuhalten. Es gibt eine Möglichkeit – in großen Mengen wählen gehen. Auch das ist keine Garantie, wenn man in einem Staat lebt, wo die Wahlbezirke so zurechtgeschnippelt wurde, dass die Republikaner immer gewinnen, auch wenn mehr Demokraten zu den Urnen gegangen sind als Republikaner. Es ist sehr wichtig, dass Trump und seine Mittäter zu Rechenschaft gezogen werden.

 

Wie wird es ausgehen? Keine Ahnung! Eines weiß ich. Dies ist nur der Anfang. In den nächsten Monaten wird Trump mit hoffentlich anderen Verbrechern für ihre Vergehen angeprangert. Man muss einen langen Atem haben aber die Aussichten sind nicht gerade schlecht. Siehe da - ein Hauch von Optimismus.

 



 

15. Mai 2023 - Ulrich Hain - "Gestaltung – Umgestaltung - Was nach dem Anthropozän kommt"

 

Gute Frage: Was kommt logischer Weise nach dem Anthropozän? Nichts. Denn wer sollte dem neuen Zän einen Namen geben?! Vergleichsweise brütet nun nicht mehr viel Diversität unter der Sonne, der grüne Restüberzug der Erdoberfläche reicht nicht für allzu vielerlei Gestalt. Andererseits lässt sich nicht verleugnen, dass sich die Küchenschaben auch unter diesen schon lange nicht mehr neuen Temperaturen prächtigst entfalten! Groß und, von Jahrhundert zu Jahrhundert, größer und immer stabiler im biologischen Wettlauf mit den Ratten als Nahrungskonkurrenten. Weiterhin ist vor allem der brillante Aufstieg der ohnehin intelligenten Krähen nicht zu vergessen. 

Ein irrationaler Versuch zur Benennung der neuen Zeiten: Cucarachozän, Corvidozän?

Womit die Menschen einst versagten, worin die Menschen einst unter glühender Sonne buchstäblich versanken, nämlich das, was sie einst unter sich gehen und hinter sich zurück ließen, das führte den „ökonomisch“, das heißt chemisch und klimatisch, leergefegten Planeten geradeswegs in die blühendste Entwicklung. Etwa im einst so genannten Europa, wo es jetzt oft in die Tiefe geht, unter die Erdoberfläche, oder in großen Teilen von „Afrika“ oder „Asien“, wo sich die Abfall- und Plastikmassen mit den anhaftenden Duft- und Nährstoffen eher gleichmäßig über Gras und Sand verteilen und von den „Cucas“ tagebaumäßig genützt werden können.  

In den Grabgängen zu den Lagerstätten unter Tage breiten sich die hellen lichtscheuen Schaben aus und zeitigen immer kräftigere vordere Beinpaare, während sich die Fühler rückbilden, ohne jedoch Beweglichkeit und Sensorien einzubüßen. Dort lauern ihnen die ebenfalls krisenfesten Ratten auf, von ihren eigenen Gängen aus. Sie leisten bei Ergrabung und Erschließung neuer Ressourcen ebenfalls Großes. SEIN Schaben- und SEIN Rattenmodell! Bewähren sich seit abertausenden und millionenfachen Erdumläufen nahezu unverändert, das kann ER sich schon sagen lassen. Das heißt, oder genauer gesagt, in flexiblen Varietäten. Was in erfreulicher Weise für IHN spricht – mal ganz ohne Selbstlob. Die Bewährung des Schabenmodells gilt auch für Erdteile mit eingewanderten dunklen Schaben, die es sich an der Oberfläche der Erde gut gehen lassen und alles genauso reinlich und unvoreingenommen abschlecken wie ihre Kollegen unten im Finsteren. 

 

Last but not least - für die bereits erwähnte Intelligenz der Corviden ist diese „tapfere neue Welt“ das Paradies schlechthin: Da bleibt kein Blättchen Plastik un-umgedreht. In harmonischer Kooperation ist selbst das handling übergroßer Plastikbahnen eine Wonne. Auch was die dicklich-trüben Meereswellen an Land schlappen, bleibt nicht unbeachtet. Dazu noch das gemeinschaftliche Scheuchen der Ratten aus der Luft - phantastische Zweikämpfe mit besonders fetten Einzelexemplaren! Blitzschnelles Erhaschen und Knacken unvorsichtiger Schaben, hell oder dunkel, wie es gerade kommt und je nach Vorliebe der individuellen Raben-Charaktere! Ein Paradies, wie gesagt. Die rapide Entwicklung des Werkzeuggebrauchs bei allen Krähen, Dohlen, Raben usw. rechtfertigt schon lange den Zusatz habilis in den lateinischen Namen. Oder: So kann man gut zu Herrschern der Lüfte oder besser - zu neuen Herrschern eines Planeten aufsteigen! Und zwar zu solchen, die nicht in ihrem eigenen Unrat untergehen, sondern im Gegenteil den pflanzlichen Restbewuchs förderlich düngen, so dass der, sagen wir mal, Beilage-Salat ebenfalls nach Wunsch gesichert ist. Kaum zu glauben, dass sie einstmals am Ende der Kreidezeit als schlichte Dinosaurier antraten.  

 

Wer behauptet, dass IHM einst mit den Menschen ein Missgriff ultimativer Art unterlaufen wäre? ER etwa „vergessen“ hätte, ihnen ebenso wie den Termiten die Fähigkeit mitzugeben, die eigenen Ausscheidungen verspeisen zu können? Die menschliche Intelligenz hätte völlig ausgereicht, für die selbst verschuldeten Residualien in kreativer Weise aufzukommen bzw. sie zu vermeiden. Wo doch deren Nachwuchs, Kinder und Jugendliche, Ansätze machten, die Kurve zu kriegen! Aber nein, aber nein…  Trotzdem, von einem ultimativen Missgriff kann man nicht sprechen. Denn das Leben bleibt nach wie vor zäh wie eine Katze:  „Gestaltung – Umgestaltung“, wie das vor Zeiten ein ahnender Geist aus der sapiens-sapiens-Gruppe ausgedrückt hat. Alles, von den ältesten bis zu den neuesten Modellen, hat ER einst angestoßen und darf nun mit gewissen sabbatlichen Gefühlen, Jahrmillionen feierlich überblickend, innehalten. Eine Notengebung sei IHM erspart diesmal, wie angedeutet. Überlassen wir das Berufeneren. 

 

Entwicklung, Entfaltung, Erneuerung! - Was haben es sich die Menschen mit dem Verklappen ins Meer und dem Verbuddeln ihres ganzen Drecks schwer getan! Tumuli oder auch Hohlräume wie im Schweizer Käse geschaffen und darein den ganzen Schmodder abgefüllt! Oder sind mit Artgenossen kriegerisch ins Gericht gegangen, die ihre Hinterlassenschaften einschließlich Plaste-Elaste und anhängenden Köstlichkeiten partout dem Wind überlassen wollten, knöcheltief über Flächen und Täler unschön verteilt. - Es richtet sich alles wie (als ob!) von selbst. Genialität des kreativen Anstoßens bewährt sich eben, zahlt sich nach den Gesetzen der Artbildung mit Leichtigkeit aus. 

Es wäre ein Widerspruch zu IHM selbst, wenn ER SEINEM Geist „nachhelfen“ wollte oder „müsste“ und hätte am Modell homo sapiens nachträglich herumpfuschen sollen. Soweit kommt’s noch!

 

Sihanoukville, 30. 1. 2008,

in Coronazeiten überarbeitet

 

https://ulrichhain.de

 


 

1. Mai 2023 - Heinrich Wortmann - Ein Reisebericht aus San Francisco ca. vom Jahre 1912 

Heinrich Wortmann geb. 21.4.1871 gest. 5.10.1919 - Ein Vorfahren von Ingrid Wortmann-Wilk

abgeschrieben von Rüdiger Wortmann 1992

 

Mit der öffentlichen Sicherheit ist es hier zur Zeit schlecht bestellt. Fast täglich kommen verwegene Raubanfälle bei hellem, lichten Tage vor. Die “gas-pipe-men” sind es, die die ganze Bevölkerung in Schrecken setzen und gegen die die Polizei ziemlich machtlos ist. Gas-pipe bedeutet Gasrohr. Diese Verbrecher gehen also, mit kurzen Gasrohren bewaffnet, die sie unauffällig in Papier eingewickelt unter dem Rock tragen, in einen Laden, wo der Besitzer oder Verkäufer allein ist. Sie geben vor, etwas kaufen zu wollen, lassen sich die Ware vorlegen, passen den Augenblick ab, wo der Verkäufer ihnen den Rücken zudreht, und schlagen ihm dann mit dem Gasrohr den Schädel ein und berauben ihn. So wurden in voriger Woche um 12.30 Uhr mittags in einer Geschäftsstraße der Bankdirektor und der Kassierer einer japanischen Bank, die sich gerade allein in der Bank befanden, niedergeschlagen und 5080 Dollars aus dem offenstehenden Geldschrank geraubt.

 

Ein ähnlicher Raubüberfall kam um 4 Uhr nachmittags in der Mission Street, ganz in der Nähe meiner Wohnung, vor. Hier fand ein Kunde beim Betreten eines kleinen Juwelierladens den Besitzer hinter dem Ladentisch mit eingeschlagenem Schädel liegend vor, die Kasse war erbrochen und beraubt. Kurz vor sich hatte er einen Mann in Arbeitskleidung den Laden verlassen sehen, der aber bald unter den Passanten der belebten Straße verschwunden war. Eine sofortige Verfolgung blieb ohne Erfolg.

 

Gestern wurde auf dem Fillmore Street ein “gas-pipe-man” in dem Augenblick erwischt, als er versuchte einem Ladeninhaber mit seinem Gasrohr den Garaus zu machen. Ein beherzter Lehrling stürzte sich auf ihn, zerkratzte ihm das Gesicht, stürzte zwar im Ringen mit ihm zu Boden, lockte aber durch sein Hilfegeschrei Straßenpassanten herbei. Diese fesselten den Verbrecher, im Nu hatte sich eine ungeheure Menschenmenge angesammelt, die wie rasend auf den Räuber einschlug und ihm fast alle Kleider vom Leib riß. Er wäre ohne Zweifel in den nächsten 5 Minuten gelyncht worden, wenn nicht einige Konstabler in diesem Augenblick auf dem Platze erschienen wären und nur mit der größten Anstrengung den Mann der erregten Volksmenge entrissen hätten. 

 

Sogar an die Straßenbahn wagen sich diese gefährlichen Gesellen. Eines Abends in voriger Woche wurde in einer einsamen Straße, deren Häuser bei dem großen Erdbeben fast alle zerstört worden sind, ein Straßenbahnwagen mitten in der Fahrt plötzlich von den zwei einzigen Passagieren, die in dem selben fuhren, zum Stehen gebracht. Die beiden Banditen, die bis dahin harmlos und unauffällig im Wagen gesessen hatten, sprangen plötzlich auf, der eine schlug den “motor-man”, d. h. den Führer des Wagens rücklings mit einem Gasrohr auf den Kopf, während der andere den Kondukteur mit vorgehaltenem Revolver zur Herausgabe des Geldes aufforderte. Als sich derselbe weigerte, wurde er kurzerhand erschossen und ihm seine Umhängetasche geraubt. Der Führer, der sich nach dem Schlag mit dem Rohr schnell wieder erholt hatte und ihm zu Hilfe eilen wollte, erhielt noch von den schnell abspringenden Räubern einen Revolverschuß in die Hand.

 

Heute stand in der Zeitung, daß zwei junge Damen einen Einbrecher, der in ihr Zimmer eingedrungen war, gepackt und solange festgehalten hätten, bis Hilfe erschienen sei, und er verhaftet werden konnte. Ja “Schneid” haben die Amerikanerinnen, daß muß man ihnen lassen.

 

Wenn ich es eben vermeiden kann, gehe ich abends nicht aus, und wenn es sein muß, trage ich immer einen Revolver bei mir. Wenn ich irgend etwas Verdächtiges sehe, habe ich ihn gleich schußbereit in der Hand.

 

Die Polizei gibt sich zwar alle erdenkliche Mühe diesem Unwesen der “Gasrohrkerls”, die nun schon wirklich zur Landplage geworden sind, zu steuern, aber man kann kein großes Vertrauen zu ihr haben, da man kürzlich sogar Polizisten dabei ertappt hat, wie sie andere beraubten. Alle Banken greifen daher zu Selbsthilfe, sie stellen ihre eigenen Sicherheitsbeamten an, die in unauffälliger Weise die Banken auf das Schärfste überwachen.

 

In zwei Volksversammlungen, die kürzlich stattfanden, kam es zu großen und erregten Debatten über die Mittel und Wege, wie dem Übel abzuhelfen sei; man kam zu keinem definitiven Resultat. Das Hauptkontingent zu diesen “gas-pipe-man” sollen die Strikebreakers stellen, d. h. die Leute, die von der Straßenbahngesellschaft vor ca. 2 Monaten aus dem Osten eingeführt wurden und die streikenden Straßenbahnbediensteten ersetzen sollten. Dieser Streik wurde damals jedoch sehr bald beigelegt, die alten Angestellten wurden wieder beschäftigt, die Neuen standen bald ohne Arbeit da und waren völlig mittellos. Die Straßenbahndirektion bot ihnen zwar freie Rückfahrt nach dem Osten an, aber die Streikbrecher zogen es vor, in San Francisco zu bleiben.

 

Die gesundheitlichen Verhältnisse lassen hier gleichfalls sehr zu wünschen übrig. Die Trinkwasser Versorgung ist sehr schlecht, das Trinkwasser kaum zu genießen. Infolgedessen nimmt der Abdominalthyphus überhand. Die Krankensäle in den Hospitälern und Universitätskliniken sind überfüllt, trotzdem laufen täglich neue dringende Gesuche um Aufnahme von Kranken ein; aber der Raum ist sehr beschränkt, weil die größten und schönsten Krankenhäuser beim Erdbeben eingestürzt und niedergebrannt sind. Es werden zwar provisorische, geräumige Baracken aufgeführt und zu Krankenhäusern hergerichtet, aber sie genügen bei weitem nicht für die vielen Kranken.

 

Die Preise für Kleidung, Lebensmittel, überhaupt für die ganze Lebensführung sind enorm in die Höhe gegangen. Zimmer, die früher für 5 Dollar monatlich zu haben waren, kosten jetzt 8 bis 9 Dollars. Sehr gesucht sind zur Zeit Bauhandwerker aller Art, wie das ja in der Natur der Sache liegt. Sie verlangen 6, 7 ja sogar 8 und mehr Dollars pro Tag. Immerhin aber geht der Wiederaufbau der zerstörten Stadt doch recht langsam vor sich. Die Feuerversicherungsgesellschaften machen wegen der Auszahlungen der Versicherungssumme immer noch große Schwierigkeiten, nicht allein die amerikanischen, sondern auch die deutschen, von denen einige Gesellschaften hier sehr stark beteiligt sind, sie wollen die Erdbebenklausel in den Policen ignorieren, was natürlich für alle Hausbesitzer, deren Häuser beim Erdbeben zusammengebrochen sind, fast völliger Ruin bedeutet.

 

Das Wetter ist kürzlich günstiger geworden, es haben vor allen Dingen in den letzten Tagen ein paar ordentliche Regenschauer eingesetzt, die den fürchterlichen Staub, den die Seebrisen aus all dem Straßen- und Häuserschutt aufwirbelt, niedergeschlagen haben.

 

Schicke mir ab und zu wieder Nummern vom “Dortmunder Generalanzeiger” zu, besonders solche, in denen Du Berichte über die Zustände in San Francisco findest. Es interessiert mich sehr, dieselben mit Mitteilungen der hiesigen Blätter zu vergleichen und zu sehen, von welchem Gesichtspunkt aus die deutschen Blätter die hiesigen Verhältnisse beurteilen. Bis jetzt sind die gesandten Nummern vom “General” alle bei uns eingetroffen. Du siehst auch daraus, daß Deine Annahme, die Postverhältnisse lägen infolge des Erdbebens noch sehr im Argen, jetzt nicht mehr zutrifft. Es ist in dieser Beziehung wieder “all right”; sogar die vielen Leute, die noch draußen im “Golden Gate” Park in Zelten und Holzhütten kampieren, bekommen ihre Postsachen zugestellt, obwohl dies an und für sich recht schwierig ist.

 

Lebe wohl! Ich sende Euch heute einige Ansichten von der Stadt.

 

 


17. April 2023 - Barbara Yeo-Emde, Der neueste Stand der Dinge per Mitte April 2023

 

Vor ein paar Tagen wurde ich angeschrieben, wie hilfreich meine Aufsätze über die Vereinigten Staaten sind, um die Lage dort besser zu verstehen. Es ist kein Geheimnis, dass ich als Demokratin wähle, aber wenn ich schreibe, versuche ich so sachlich zu bleiben, wie nur möglich. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht dazu bringen kann, FOX News oder andere extreme Sendern anzuschauen, aber ich habe eine große Anzahl von Quellen für Nachrichten, um nicht einseitig informiert zu sein.

 

Seit der Wahl des letzten Bewohners des Weißen Hauses (Präsident kann ich ihn nicht nennen), wachen Abermillionen von Menschen jeden Tag in den USA auf mit der Befürchtung, dass etwas Schreckliches passieren wird. Die Zunahme an Gewalt, insbesondere die Massaker durch Schießereien und die unzähligen Versuche, die Demokratie auszuhebeln sind nur zwei von vielen Gründen, warum man schlaflose Nächte hat. Genau wenn man absolut verzweifelt ist, passieren Sachen, die einem wieder Hoffnung gibt. Damit werde ich diesen Bericht schließen.

 

Wer meine Abhandlungen über die USA schon gelesen hat, wird sich vielleicht erinnern, dass ich mich immer wieder frage, was aus der republikanischen Partei geworden ist. Ich bin in einer Familie groß geworden, die immer diese Partei wählte. Als Teenager hatte ich mich für die demokratische Partei entschieden. Schon damals gefiel mir die Plattform der Republikanern nicht, aber man hatte wenigstens das Gefühl, dass die meisten der Partei sich mit Würde für ihr Land einsetzten. Heutzutage kann man das leider nicht behaupten.

 

Angeblich sind die Republikaner für weniger Einmischung oder Einfluss der Regierung in vielen Bereichen des Lebens. Freiheit ist das Leitwort. Man soll Meinungsfreiheit haben, auch wenn die Freiheit anderen Menschen durch Lügen verletzt oder sogar entzogen wird. Mehr als sehr widersprüchlich ist die Freiheit, Waffen zu besitzen, die das Leben und damit unzähligen unschuldigen Menschen die Freiheit entreißt. Die Freiheit großer Konzerne, zu machen, was sie wollen, egal was es für Folgen gibt, ist fast sakrosankt. Davon gab es mehrere Beispiele in den letzten Monaten, weil sehr viele sinnvolle Verordnungen während der Trump Administration abgeschafft wurden, z.B. für Banken oder Sicherheitskontrollen für Güterzüge.

 

Dagegen setzen sich die Republikaner überall in den Staaten dafür gewaltig ein, einer Frau die Freiheit, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, zu entreißen. Themen wie Sklaverei, Verletzungen von Bürgerrechten oder die Akzeptanz von Nicht-Heterosexuellen zu behandeln, wird nicht nur in Schulen verboten. Der offene Rassismus ist wieder „en vogue“ in dieser Partei. 

 

Dann gibt es den unverständlichen Zustand der Verehrung einer Person, die ich als Verbrecher sehe und ich den „Criminal in Chief“ nenne. Zum ersten Mal in der Geschichte der USA wurde ein ehemaliger Präsident verhaftet. In den nächsten Monaten könnte er noch fünf Mal für unterschiedliche Straftaten wieder angeklagt werden. Zurzeit gibt es zahlreiche Verfahren und Untersuchungen über Trumps Machenschaften. (Aktuell sind weit über 20, wobei die Anzahl so groß ist, dass ich bis jetzt keine komplette Auflistung finden konnte.) Die Bandbreite reicht von sexueller Belästigung und Vergewaltigung, über jahrzehntlange Wirtschaftskriminalität, Steuerhinterziehung, Fälschung von Unterlagen, illegalen Besitz von Regierungsdokumenten, Wahlbetrug, Veruntreuung von Geldern, Anstiftung zum Aufruhr bis zum Versuch des illegalen Machterhalts.

 

Manche behaupten, dass das Gerichtsverfahren, wofür er vor zwei Wochen angeklagt wurde, wegen einer Kleinigkeit ist. Ich bin anderer Meinung. Mit der Unterdrückung von schädlicher Information über sein Verhalten, wurde die Wahl in 2016 maßgeblich beeinflusst. Es heißt, dass Trump in den Umfragen kurz vor dieser Wahl einen enormen Popularitätsverlust wegen seiner sexistischen Aussagen erlitt. Wenn die republikanischen Wähler erfahren hätten, dass er eine Frau bezahlte, nicht über ihre Affäre mit ihm publik zu gehen, hätte es sehr wahrscheinlich dazu geführt, dass er die Wahl nicht gewonnen hätte. 

 

Diese sexuelle Liaison ist nicht die einzige, die Trump versuchte, geheimzuhalten. Er hatte eine Abmachung mit dem Besitzer des Skandalblatts „National Enquirer“, die „Catch and Kill“ (Fangen und Töten) heißt. Die Boulevardzeitung nahm Meldungen von mehreren Frauen entgegen, die ein außereheliches Verhältnis mit Trump hatten. Die Frauen unterschrieben einen Geheimhaltungsvertrag für ihre Geschichten. Der Enquirer besitzte dadurch die Exklusivrechte und veröffentlichte nie diese Informationen. 

 

Trump beschwert sich immer, dass er ungerecht verfolgt wird. Einer seiner Lieblingsbegriffe ist „Witch-Hunt“ – Hexenjagd. Dieses Wort kann man sehr berechtigt für das aktuelle Tun der republikanischen Mehrheit des Repräsentantenhauses verwenden. Anstatt etwas für ihre Wähler zu bewirken, verbringen sie ihre Zeit mit Anhörungen, die Präsident Biden und andere Demokraten schädigen sollen, um ihre Gefolgschaft bei der Stange zu halten. 

 

Das Gleiche gilt für FOX News, eigentlich eine heuchlerische Bezeichnung für diese Meinungssender. Aktuell läuft eine riesige Anklage gegen FOX durch die Firma „Dominion Voting Machines“, weil der Sender, mit anderen zusammen, Dominion anschuldigte, ihre Wahlmaschinen zugunsten der Demokraten in der Wahl 2020 manipuliert zu haben. Inzwischen ist konkret bewiesen worden, dass alle Beteiligten absolut keine Nachweise dafür hatten und darüber im Klaren waren. FOX entschied sich, diese Lügen weiterzuerzählen, weil sie einen Verlust an Zuschauern befürchtete. Es gibt Schriftverkehr und Gesprächsaufnahmen, die belegen, dass nicht nur bekannt war, dass diese Manipulation nicht stattfand, sondern auch, dass die wichtigste Führungskräfte und Journalisten des Senders Trump für ein Desaster und viele angebliche Zeugen, die behaupteten, dass es Wahlbetrug gab, für verrückt halten. Meiner Meinung nach, hätte Amerika ein riesiges Glück, wenn es diesen Sender nicht mehr geben würde. 

 

Wenn das alles nicht genug wäre, gibt es große Sorgen um die Unparteilichkeit und Aufrichtigkeit der Richter des Obersten Gerichts, die auf Lebenszeit ernannt werden. In den letzten Monaten gab es sehr umstrittene Gerichtsentscheidungen, insbesondere die um das Abtreibungsrecht. Zurzeit vor allem wird ein Richter, Justice Thomas, mehrerer Verfehlungen beschuldigt. Seine Frau hat angeblich etwas mit dem Aufstand am 6. Januar 2021 zu tun, aber er weigert sich, bei Fällen, die mit dem Sturm auf das Kapitol zu tun haben, sich wegen Befangenheit zurückzuziehen. Jetzt wird eine Untersuchung dieses Richters gefordert, weil er jahrzehntelang Gelder und Gefälligkeiten von einem sehr reichen und mächtigen erzkonservativen Millionär angenommen hat, ohne sie rechtmäßig gemeldet zu haben. 

 

Weiterhin versuchen die Republikaner auf Staatsebene, die Verteilung der Wahlbezirke (Gerrymandering) so zu organisieren, dass sie meistens gewinnen. Als Beispiel: In Wisconsin haben die Republikaner in ihrer Staatsregierung eine zwei Drittel Mehrheit der Sitze (Super Majority – qualifizierte Mehrheit), obwohl die Demokraten genauso viele Stimmen bei der Wahl erhielten.

 

Ich könnte weitere Horrormeldungen über dem drohenden Untergang der Demokratie in den Staaten geben. Aber jetzt will ich über ein paar Sachen schreiben, die zeigen, dass die Demokratie doch nicht ganz tot ist. Das erstes Beispiel ist in Wisconsin passiert, indem vor ein paar Wochen eine moderate Kandidatin die Wahl für Wisconsins Oberstes Gericht über einen Rechtsextremisten gewann. Das zeigt ganz genau, warum Wählen gehen eine große Wirkung haben kann. 

 

In Michigan sind inzwischen moderate Frauen in den wichtigsten Positionen in der Regierung dieses Staates, der mehrere Jahren lang von sehr konservativen Männern geführt wurde.

 

Das nächste Beispiel hat mit der furchtbaren Schießerei in Tennessee zu tun, die vor circa zwei Wochen stattfand, wo drei Kinder und drei Erwachsene durch ein Sturmgewehr umgebracht wurden. Daraufhin gab es große Demonstrationen in Tennessee für bessere Waffengesetze, zum größten Teil von jungen (weißen) Menschen. 

 

Tennessee ist einer der Staaten, der durch ungerechte Wahlbezirksaufteilungen leidet und für Rassismus sehr bekannt ist. Drei Demokraten von der Legislative in Tennessee wurde es nicht erlaubt, bei einer der Sitzungen über das Thema Waffen zu reden. Um Gehör zu bekommen, nutzten sie im Plenarsaal ein Megafon, um gehört zu werden. Prompt wurden zwei ihrer Ämter enthoben. Diese beiden sind junge schwarze Männer. Die andere Person, die mitmachte aber nicht bestrafft wurde, ist eine Weiße. Diese Aktion der republikanischen Partei in Tennessee war offensichtlich rassistisch und ein Versuch, die Demokratie zu umgehen, der für viel Aufruhr sorgte.

 

Wenn eine Vakanz in der Legislative während einer Amtsperiode entsteht, muss eine Ersatzperson vom betroffenen Wahlbezirk bis zur nächsten Wahl gefunden werden. Zur großen Freude wurde beide Männer, die stark an Martin Luther King und John Lewis erinnern, von ihren Bezirken wiedereingesetzt.

 

Wie schon erwähnt, könnte es in den nächsten Wochen bzw. Monaten weitere Anklagen gegen Trump geben. Bis Anfang Mai muss eine Staatsanwältin in Georgia entscheiden, ob Trump und mehrere seiner Unterstützer wegen versuchter Wahlmanipulation angeklagt werden sollen. Es heißt, dass die Beweise sehr überzeugend sind, dass ein Verbrechen begangen wurde. Es könnten jederzeit zu weiteren Anträgen auf Strafverfolgung wegen der unterschlagenen Dokumente, wegen Geldveruntreuung von Spenden und eventuell auch wegen des 6. Januars kommen. 

 

Es ist kaum zu fassen, dass dieser schreckliche Mensch zurzeit der führende Kandidat der republikanischen Partei für die Präsidentschaftswahl in 2024 ist. Ich versuche keine zu großen Hoffnungen zu hegen, aber es heißt, dass er langsam aber sicher an Zustimmung der Wähler seiner Partei verliert. Möge dies wirklich wahr sein!

 

Hier gebe ich ganz offen zu, keine Scham zu empfinden, dass ich mir wünsche, diese Kreatur und seine hunderten Helfer hinter Gittern zu sehen. Wie schon öfters gesagt, die Hoffnung stirbt zuletzt. 

 

 

 


 

7. April 2023: Johannes Eucker - Zauber der Erinnerung - Der erste Schultag und ei - n Hase

 

An den ersten Schultag erinnere ich mich, weil er unter Bedingungen stattfand, die der Krieg diktierte. Der erste Schultag fiel in das Jahr 1942. Infolge der Knappheit an alltäglichem Gebrauchsgut gab es keine neuen Schulranzen, keine neuen Griffelkästen, keine neuen Schiefertafeln. Lediglich der Lappen zum Abtrocknen der Schiefertafel war von meiner Mutter neu hergestellt worden, mitsamt den Kordeln, an denen Schwamm und Lappen aus dem Ranzen heraus baumelten. Der Ranzen stammte von meinem Cousin in Unterrosphe. Der hatte die Schule schon hinter sich. Er hatte den Ranzen von seinem Paten übernommen und das war mein Vater. Diese Tradition machte das schon ziemlich gebraucht aussehende Stück in meinen Augen wertvoll. Der Ranzen war ein Jungenranzen, von denen sich die Mädchenranzen durch ein Konstruktionsmerkmal unterschieden, dessen Zweck mir nie eingeleuchtet hat wie so manches, das als typisch weiblich hingenommen werden musste. Die Trageriemen wurden bei diesen Ranzen nämlich umständlich um den Ranzen herumgeführt und legten sich kreuzweise auf die Öffnungsklappe. Das machte das Öffnen und Schließen des Ranzens umständlich und deshalb hatten Mädchen nie eine Chance bei dem alltäglichen Wettkampf am Ende des Schultages zu gewinnen, wenn es darum ging, wer am schnellsten eingepackt hat und fertig neben der Bank steht. Einen solchen Ranzen musste ich zum Glück nicht nehmen, obwohl von meiner Cousine noch ein solcher vorhanden war. - Am ersten Schultag wurden wir auf unsere Plätze eingewiesen, Jungen und Mädchen getrennt in verschiedenen Reihen von Rettigbänken. Einleuchtend fand ich die Anordnung nach Alter. Die beiden Jüngsten saßen in der ersten Bank, ich fand in der dritten von vorne rechts meinen zugewiesenen Platz. Leider kam ich neben einen Jungen zu sitzen, der schon im Kindergarten nicht zu meinen Lieblingen zählte. - Enttäuscht war ich, als uns die Lehrerin eröffnete, dass die Lesefibeln noch nicht da sind. Ohne Lesebuch aber ging für mich die Schule nicht richtig los.

 

Ich muss wohl prompt krank geworden sein, denn an die folgenden Tage in der Schule habe ich keinerlei Erinnerung außer dass die Lehrerin eines Tages an meinem Bett saß, was ganz ungewöhnlich war, denn die Lehrersfamilie zeichnete sich dadurch aus, dass sie jeden persönlichen Kontakt zu Dorfbewohnern vermied. Nun war die „Schumstersche“ extra gekommen um mir die Fibel zu bringen. Was für ein Ereignis!

 

Die Begeisterung über das schöne Buch erlitt aber bald eine unvorhergesehene Trübung. Zunächst las ich voller Eifer darin, das heißt ich erfreute mich an den Bildern.

 

Als nächstes Erinnerungsbild sehe ich meinen Vater im Bett neben mir, ich lag demnach in Mutters Bett. Er hatte die Fibel in der Hand und erklärte mir, wir müssten jetzt ein paar Seiten lesen, damit ich durch meine Krankheit nicht gleich zu Beginn meiner Schulzeit hinten dranhinge. Diese Befürchtung seinerseits machte mir Angst und ich wollte alles tun, dass ich kein schlechter Schüler würde.

 

Die erste Seite überschlug er, da krähte ein Hahn, das war jedem Landkind ein verständlicher Einstieg, nur dass man das aufschreiben konnte, was er krähend von sich gab, das war neu, denn ein Hahn kräht ja keine Wörter. Tatsächlich krähte er in der Fibel lauter iiiiiiiiiii, was für ein Landkind ausgemachter Blödsinn ist. Möglicherweise wurde mit dieser ersten Seite meines ersten Lesebuches schon der Grundstein für das Lernziel späterer Rahmenrichtlinien der Bundesländer in Deutsch gelegt, die Schüler zu kritischen Lesern zu erziehen. Was da schwarz auf Weiß stand, war einfach falsch. – Mein Vater schien diese Seite genau so zu beurteilen, denn er begann seine Veranstaltung in Erstleseunterricht auf einer Seite weiter hinten. Ich konnte schon ein bisschen lesen, aber Vater nahm das nicht zur Kenntnis. Er schlug eine Seite auf, die ich auch schon kannte. Dort war u. a. ein Hase abgebildet, ein mir wohl bekanntes Tier und davor stand das Wort Ein. Diese Wort-Bild-Kombination wollte mich nun mein Vater lesen lehren. Als Leselernmethode kannte er nur die Synthese von Buchstaben bzw. Lauten zu Wörtern. Ich konnte das Wort Ein längst lesen, was Vater aber nicht wusste. Er buchstabierte mir vor: Ei, n und erwartete dann von mir, dass ich Ei und n zusammenzöge und Ein sagte. Da mir aber längst klar war, dass das Wort Ein hieß, übersprang ich diese Selbstverständlichkeit und „las“ weiter und sagte glücklich und meines Lesevermögens gewiss „Hase“. Vater schien nicht zufrieden zu sein mit dieser Leistung, denn er wiederholte den Vorgang. Ich war wiederum glücklich wie gut ich es konnte. Als er dann zum dritten Mal und mit erhobener Stimme buchstabierte Ei - n …, da war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich alles richtig gelesen hatte, ob das Bild wirklich einen Hasen zeigte und zögerte. Er dagegen, inzwischen ungeduldig geworden, buchstabierte zum vierten Mal und als ich dann schwieg, da war er sicher, dass ich  zu dumm sei auch nur ein so einfaches Wort zu erlesen und er herrschte mich an: Du kommst mit dem ABC-Buch aus der Schule. 

 

Diese Prophezeiung war gar nicht so falsch, denn nach dem Abi wurde ich zunächst Lehrer und beschäftigte mich u. a. mit Erstleseunterricht und wurde Autor einer Fibel für den Erstleseunterricht.

 




 

20. Februar 2023 - Barbara Yeo-Emde, "State of the Union – Die Lage in den USA"

Immer wieder werde ich gefragt, wie die Situation in den USA aussieht oder was ich von Präsident Biden halte. Die letzten Monate in meinem Heimatland waren sehr turbulent und die nähere Zukunft sieht nicht so aus, als ob sie ruhiger wird. Es gibt so viel, was in den letzten Wochen passierte, dass es schwierig ist, zu entscheiden, womit ich anfangen soll. 

 

Mit jedem Tag wird es mir klar, dass die USA ein großes Glück hatten, dass Joe Biden die Präsidentschaftswahl in 2020 gewann. Bei seiner Rede „Ansprache zur Lage der Nation“ (State of the Union) am 7. Februar zeigte er sehr deutlich, dass seine jahrzehntelange Erfahrung in Washington ihn zum richtigen Mann zum richtigen Zeitpunkt macht. 

 

Seit Jahren ist die Lage in den Staaten äußerst kritisch, das Überleben der Demokratie hoch gefährdet. Wie ich schon oft geschrieben habe, die Mehrheit der republikanischen Partei hat sich dem Aushebeln der Demokratie in den Einzelstaaten verschrieben, das mit dem 6. Januar nicht aufgehört hat. Der Angriff auf Werte, die bis vor 10 Jahren selbstverständlich erschienen, geht mit aller Gewalt weiter.

 

Nachdem das zum größten Teil konservative Oberste Gericht das Recht einer Frau, über ihren eigenen Körper zu entscheiden, rückgängig machte, geht es in mehreren Staaten weiter mit der Wegnahme nicht nur dieses aber auch anderer Rechte. Zum Beispiel, in manchen Staaten darf in den Schulen im Geschichtsunterricht über „People of Color“ (Nicht-Weißen) nicht unterrichtet werden. Man kann in den Ereignissen der letzten Jahre sehr gut sehen, wie stark der Rassismus in den USA ist. Viel zu viele unschuldige Leute wurden von der Polizei getötet oder angegriffen, nur weil sie nicht weiß waren. 

 

Weiterhin wird versucht, die Wahlbedingungen so zu gestalten, dass auch ohne eine Mehrheit die Republikaner an die Macht kommen und für immer bleiben. Zurzeit wird ein Fall vom Obersten Gericht geprüft, wodurch die jeweiligen Mehrheiten in den einzelnen Staaten entscheiden könnten, ob die Wahlergebnisse akzeptiert werden sollten oder nicht. In manchen Staaten mit Republikanern an der Macht lehnen sie alle Ergebnisse ab, bei denen sie verlieren. Es ist eine besorgniserregende Vorstellung, die mit diesem rechtsorientierten Gericht Wahrheit werden könnte.

 

Über das Thema „Waffenbesitz“ habe ich bestimmt in meinen Aufsätzen öfters geschrieben. Nach wie vor besitzen viele Republikaner die Unverfrorenheit zu behaupten, dass sie „Pro-Life“ sind, wenn weiterhin jährlich im Durchschnitt über 40.000 Menschen wegen einer Schießerei sterben. Mehr als 75.000 überleben ihre Verletzungen und unzählige sind für das Leben traumatisiert. Wenn versucht wird, automatische und Kriegswaffen zu verbieten, dann wird laut geschrien, dass einem das Recht der Freiheit oder Selbstbestimmung entzogen wird. Was ist mit der Freiheit der Menschen, die umgebracht werden? Wie lange muss die überwiegende Mehrheit der Amerikaner noch warten bis sie die vernünftigen Gesetze bekommen, die sie haben möchten? 

 

2010 als die rechtsradikale „Tea Party“ in den Kongress kam, wartete ich darauf, dass es eine Spaltung in der republikanischen Partei geben würde. Weil die moderateren Mitglieder der Partei ohne diese Extremisten niemals wieder eine Mehrheit erreichen würden, haben sie ihre Seelen verkauft und zugesehen, wie ein Präsident das Land fast ruinierte und eine Meute bis zum Aufstand angestachelt hat. Zurzeit haben die Republikaner die Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Dort und in der Partei selber herrscht absolutes Chaos. Im Abgeordnetenhaus ist alles, was sie vorhaben, unsinnige Anhörungen zu führen, in der Hoffnung, Präsident Biden oder den Demokraten Schaden zuzuführen. 

 

Eine zusätzliche Unverschämtheit ist die momentane Situation mit der sogenannten „Debt Ceiling“ (Schuldenobergrenzen). Der englische Begriff ist irreführend. Es geht darum, die Schulden, die im vergangenen Jahr entstanden sind, zu bezahlen. Schon seit dem Bestehen der USA gibt es eine Klausel in der Verfassung, dass die Schulden bezahlt werden müssen. Der Kongress soll pro forma genau das tun. Leider gibt es Republikaner, die nur zustimmen würden, wenn Gelder für Programme wie die staatliche Renten- und Krankenversicherung gestrichen werden. Manche möchten sogar alle beiden Programme komplett abgesetzt sehen. Wenn bis zum Anfang Juni nichts wegen der Schuldengrenze unternommen wird, dann wird die USA in Zahlungsverzug sein, ein Zustand, der eine gigantische globale Krise auslösen würde. 

 

Bei seiner Rede am 7. Februar bewies Joe Biden, dass er ein alter Fuchs ist. Er berichtete, dass manche Republikaner bei der Rentenversicherung und Krankenversicherung nicht nur Gelder streichen sondern sogar sie ganz abschaffen wollen. Darauf sind einige Republikaner hereingefallen und haben Präsident Biden mit Buhrufen überhäuft und einen Lügner genannt. Schlau wie er ist, hat Präsident Biden die Republikaner damit dazu gebracht, öffentlich zuzustimmen, dass beide Versicherungen unangetastet bleiben sollen.

 

In dieser Rede sprach Präsident Biden außerdem über die Erfolge seiner ersten zwei Jahre im Amt. In diesem Punkt hat seine Administration Enormes geleistet. Es wurden mehrere Gesetze verabschiedet, die wirklich vielen Menschen helfen. Als er im Januar 2020 ins Weiße Haus zog, war die Lage in den USA katastrophal. Durch den „American Rescue Plan“, ein Konjunkturpaket, gibt es inzwischen weniger Inflation und die Arbeitslosenquote ist die niedrigste seit über 50 Jahren. Es werden Gelder in Infrastruktur, Umweltschutz und amerikanischer Produktion investiert. Ein Gesetz wurde verabschiedet, damit die enorm hohen Kosten für Medikamente für Senioren ein Limit erhalten. Programme wurden abgesegnet, die bessere Unterstützung für Veteranen, mehr Schutz für Frauen gegen Gewalt, das stärkste Gesetz für Waffenkontrolle (aber immer noch viel zu schwach) seit Jahrzehnten und die Rettung der Post beinhalten.

 

Trotz alldem genießt Präsident Biden keine große Popularität. Viele denken, dass er zu alt ist. Für manche ist er nicht charismatisch genug. Aus persönlicher Sicht: mit jedem Tag gefällt er mir immer besser. Ob er in 2024 kandidiert, steht noch in den Sternen. Zurzeit gibt es keine Person in der demokratischen Partei, die sonst vielversprechend genug erscheint. Der richtige Wahlkampf beginnt erst im Januar nächsten Jahres. Bis dahin kann eine ganze Menge passieren.

 

 

Noch sehr wichtig für viele Amerikaner sind die ca. 20 laufenden Verfahren auf staatlicher und bundesstaatlicher Ebene gegen Trump. Hoffentlich wird er bald angeklagt, wegen seiner sehr wahrscheinlichen illegalen Tätigkeiten, die von Steuerhinterziehung, Vergewaltigung, finanziellen und Wahlbetrug, Bestechung, Rufschädigung, Aufhetzung zum Aufstand, Pflichtversäumnissen bis zum ungesetzlichen Besitz von staatlichen Dokumenten, teils hoch geheim reichen. In den nächsten Monaten soll entschieden werden, ob einige dieser Fälle vor Gericht kommen. Zum ersten Mal in der Geschichte der USA könnte ein ehemaliger Präsident angeklagt und eingelocht werden. Mit zu ihm in den Knast gehört eine riesige Menge anderer Leute. Zu diesem Thema hatte ich letztes Jahr eine Computer-Collage entworfen – „Meine Traumwelt – Trump & Co. hinter Gittern“. (BILD) Die Umrandung sind Namen von ca. 50 Personen, die damals schon in die Machenschaften Trumps eingebunden waren. Inzwischen könnten mindestens noch 150 Personen für ihre Rollen im Wahlbetrug und im Aufstand dazukommen. Ich träume weiter!

 

 

 

WORDS DO MATTER  (was, und wie man es sagt, ist wichtig)

 


 

Prof. Dr. Johannes Eucker                                                          9.1.2023

 

Bilder machen mit Künstlicher Intelligenz

Einen Text zu diesem Thema hatte ich im ART-Heft 1/23 gelesen, ihn aber ohne weiter nachzudenken beiseite gelegt. Erst als mich mein Enkel Samuel Eucker, der beruflich mit KI zu tun hat, auf ein KI-Programm hinwies und mich bei den ersten  Schritten zu seinem Gebrauch begleitete, fing ich Feuer und startete zahlreiche Versuche. 

Der Ablauf ist einfach. Man gibt in ein vorgesehenes Feld einen kleinen Text ein (bisher nur englisch möglich), in dem man ein Bild, das generiert werden soll, möglichst gut beschreibt. Nach höchstens einer Minute erscheint ein Bild.

Meine ersten Versuche brachten keine Produkte hervor, die mir zusagten. Das lag aber nicht am Programm, sondern an der Unzulänglichkeit meiner Texte.

Abb. 1 zeigt ein Werk von Samuel Eucker zum Thema Gitarre, eins von mehreren. Den genauen Text der Eingabe haben wir leider nicht gespeichert. Er enthielt Angaben wie Guitar, painting of George Braque, cubisme, central composition etc.

Gibt man nun denselben Text erneut ein, wirft das Programm eine Variation aus. Das kann man beliebig fortsetzen, so entsteht eine Reihe von Bildern in der Art wie in der Musik Thema und Variation bekannt sind. Man kann aber auch kleinere oder größer Textveränderungen vornehmen. Hier ist Einfallsreichtum gefragt. Die Abb. 2,3,4,5 zeigen einige Ergebnisse dieses Vorgehens von mir. Je ideenvoller der Text, desto ergiebiger die Bildgeneration.

Man kann auch mit poetischen Texten und Unsinntexten experimentieren.

Wie sieht es bei dieser Art künstlerischen Schaffens nun mit dem Urheberrecht aus? Man kann die Meinung vertreten Urheber/Autor/Produzent sei derjenige, der den Text (genannt Prompt) erfindet und eingibt und aus der Vielzahl der ausgeworfenen Bilder „sein“ Bild auswählt. Die Bilder kann man am PC mit anderen Bildprogrammen bearbeiten oder nach dem Ausdrucken mit Pinsel und Farbe übermalen. 

Diese Auffassung ist aber noch diskussionswürdig. Man sollte die jeweiligen AGBs der Programme sorgfältig lesen, die sich möglicherweise auf die Rechte am Bild auswirken.

Das Programm erlaubt natürlich nicht nur Werke in der Art von Malerei zu produzieren, sondern auch fiktive Fotografien. Ich brauchte für einen meiner Cartoons als Hintergrund einen modernen Wohnraum. Nach einer Reihe von Versuchen hatte das Gewünschte. Siehe Abb. 6!

Wolfgang Ullrich schreibt in seinem Text in ART 1/23 auf S. 68: „ Wie die Fotografie könnte nun die künstliche Intelligenz die Welt der Bildproduktion verändern.“

Der künstlerische Prozess als geistige Leistung beim konventionellen Bildermachen läuft dem künstlerischen Prozess mithilfe der KI durchaus vergleichbar ab, wenn sich auch viele Künstler dessen nicht bewusst sind. 

Wer ein Bild malt oder ein anderes ästhetisches Objekt herstellt, hat eine Menge im Laufe seines Lebens erworbener Informationen über Bilder, Stile, Verfahren, Techniken etc. im Kopf, oft unbewusst. Sie fließen in sein Werk ein.

Was der Künstler also im Gehirn gespeichert hat und mehr oder weniger von ihm abgerufen wird, das hat die KI ebenso zur Verfügung. Ihr Speicher hat aber ein gigantisches weltweites Ausmaß: potentiell alle Inhalte des Internet. Diese kann man durch das Prompt abrufen, geschickter oder ungeschickter. Was von den entstehenden vielen Produkten erhalten bleiben soll, entscheidet der Künstler.

Am Anfang nimmt der Künstler allerdings keinen Pinsel zur Hand, sondern er schreibt auf einer Tastatur. Wolfgang Ullrich sagt dazu in Anspielung auf eine biblische Formulierung: „Am Anfang war das Wort“. Das Johannesevangelium verkündet, dass Gott durch das Wort alles andere erschaffen hat.

Zu Kulturpessimismus besteht keinerlei Anlass.

Anmerkungen:

- Das Programm kann man unter mage.space aufrufen. Es gibt außer mage.space noch einige andere Webseiten, die den Dienst anbieten, in Varianten, bezahlt und unbezahlt.

- Den Begriff KI für diese Programme übernehme ich von Wolfgang Ullrich. Möglicherweise ist auch er diskussionswürdig.

 


1) Flamenco ist ...
das Zimmermädchen im Hotel
wischt Fußböden und Waschbecken,
singt mit Inbrunst und Freude:
„Deine Lippen schmecken nach Zimt.“
 
2) Flamenco ist ...
der Kellner in der Bar.
Zwischen zwei gespülten Gläsern
klatscht er mit den Händen den Compas der Buleria.
Zum Schluss zwei gestampfte Schritte.
 
3) Flamenco ist ...
die Fleischverkäuferin im Supermarkt.
Trotz vieler Kunden vor der Theke
lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen.
Schneidet Schinken, packt die Wurst ein,
singt aus vollem Halse:
„Deine Lippen auf meinen Lippen.“
 
4) Flamenco ist ...
Jung und Alt warten vor der Disco,
begehren Einlass.
Ein Wort gibt das andere.
Ein Mann baut sich auf vor einer Frau,
die rechte Hand auf dem Herzen,
die linke Hand erhoben.
Er singt sie an, beschwörend,
blickt ihr in die Augen, sie lächelt geschmeichelt.
Am Ende seines Vortrags bricht die Stimme
Vor Anstrengung.
Gelächter und Rufe der Anerkennung ringsum.
 
5) Flamenco ist ...
der Schulausflug auf der Plaza,
die Mädchen im Minirock,
die Jungen mit Baseballkappen,
die Rucksäcke fliegen auf den Boden.
Zwei Mädchen fangen an zu klatschen
den Takt der Sevillanas.
Zwei weitere stellen sich gegenüber,
zupfen das T-Shirt glatt
und beginnen zu tanzen;
trotz Turnschuhen mit einer Grazie,
als trügen sie das schönste Kleid der Welt.
 
6) Flamenco ist ...
Wenn der Sänger in der Peña sich verströmt
mit seiner Stimme, sich festsaugt an den
Augen des Gitarristen, der ihn begleitet,
ihm den Halt  und den Rahmen gibt für den Gesang.
Das Publikum lauscht andächtig,
nimmt teil an dem Geschehen,
einem Gottesdienst gleich.
Nach der Vorführung – längst ist die gebannte
Aufmerksamkeit fröhlichem Geplauder gewichen –
eine junge Frau –unscheinbar  bislang-
es bricht aus ihr heraus.
Sie schreit mehr als sie singt.
Sie schlägt mit den Händen den Takt
auf die Tischplatte, ist wie entrückt.
Der Sänger – noch eben auf der Bühne – 
tritt an ihren Tisch, antwortet ihr-
sie singt zurück – ein Dialog der Stimmen.
 
7) Flamenco ist ...
Feria in Andalusien, Fest der Farben.
In der Menschenmenge in einem der Zelte  bildet sich ein Kreis.
Rhythmisches Klatschen, eine Tänzerin in der Mitte,
sinnlich und stolz,
Armbewegungen wie Flügel.
Die Menschen im Kreis feuern sie an.
Ein Mann löst sich aus der Gruppe,
nimmt seinen Platz ein, der Frau gegenüber, 
schaut zunächst  zu Boden.
Nach den ersten sparsamen Schritten
fixiert er ihre Augen.
Sie umkreisen sich wie Raubkatzen vor dem Angriff,
geschmeidig und herausfordernd.
Die Schritte und Gesten werden heftiger.
Der Mann dreht sich blitzschnell,
tritt hinter sie, legt den Arm um ihre Schultern,
begleitet sie zum Rand
unter lautem Zurufen  der Umstehenden.
 
8) Flamenco ist ...
ein Gitano, die Haare ergraut,
setzt sich auf einen Stuhl,
nimmt seine langjährige Gefährtin,
die Gitarre,
behutsam in die Hand,
platziert sie auf seinen Knien.
Er hält Zwiesprache mit seinem Instrument,
bezaubert die Zuhörer mit wunderschönen Falsettas,
überrascht mit plötzlichen Stops
und schlägt auf die Saiten.
Nur ganz von Nahem sieht man die 
verhärteten Fingerkuppen, Folge besessenen Übens.
 
9) Immer mehr Menschen
aus dem Norden
lassen sich faszinieren vom Flamenco.
Schauen der Lehrerin auf die Füße,
die den Rhythmus vorgeben.
Der Gitarrist verlangsamt das Tempo, 
das Taconeo hallt durch den Raum.
Die Schülerinnen spüren das Feuer, 
das von der stolzen Frau ausgeht
und auch ihre Herzen erfasst.
 
10) Flamenco ...
Das heißt auch oft, sich verkaufen-
an Touristen, die an ihrer Sangria nippen.
Auf Befehl zweimal die Nacht
Dramatik und Leidenschaft zeigen-
das gelingt nicht immer,
manchmal nur mit chemischer Hilfe.
Drogen, Alkohol, Zigaretten –
oft genug die Begleiter des Flamenco.
Wenn der Flamenco nicht ausreicht,
Leid, Schmerz, Verachtung und Armut
zu lindern, entfalten die chemischen Tröster
ihre zerstörerische Kraft.  
 
11) Flamenco ist ...
Ein ausgemergelter Tänzer,
er tanzt die Farucca,
er tanzt den Tod, 
er gerät außer sich,
ein Trommelfeuer der Stiefel, 
die Arme schlingen sich 
wie Kraken um den Körper.
Das Gesicht eine Grimasse.
Nach dem Tanz sitzt er neben der Bühne,
starrt auf den Boden, hat alles gegeben.
 
12) Flamenco ist ...
Aufruhr und Labsal,
Trauer und Freude,
Angriff und Zärtlichkeit,
Sinnlichkeit und Entrücktheit-
Wen er einmal gepackt hat,
ist ihm lebenslang verfallen.